Konfession – Literarische Subjektivierung und Kulturelle Differenz

Forum Literatur und Religion 2024
18.-19. Oktober 2024 Leucorea, Wittenberg
Organisiert von Karl Tetzlaff und Daniel Weidner

Bekennen, Bekenntnisse und Konfessionen sind eng aufeinander bezogen: Sie stellen gleichzeitig Formen kultureller und sozialer Klassifizierung dar, die tief in die Individuen hineinreichen, und Sprechakte der Subjektivierung, die wiederum in Dispositive der Äußerung und textuelle Überlieferungen eingebettet sind. Gerade Literatur wurde lange – und vielleicht bis heute – stark in konfessionellen Zusammenhängen produziert und konsumiert und hat nicht selten konfessionelle Zugehörigkeiten verhandelt. Zugleich arbeiten literarische Texte an den Formen des Bekennens, die immer schon zwischen Sprechakt und Schrift, Intimität und Öffentlichkeit, Subjekt und Norm angesiedelt sind. Als Diskursritual betrachtet, entspringen solche Bekenntnisse gerade jenem Raum zwischen kultureller Ordnung und subjektiver Äußerung, der auch der Raum der Literatur ist. Das diesjährige Forum Literatur und Religion diskutiert literarische Strukturen in religiösen und literarischen Bekenntnistexten ebenso wie die literarische Inszenierung und Konstruktion von Konfessionen und das Nachleben konfessioneller Praktiken und Denkmuster.

Programm

Freitag 18.10.

9-10:30
Begrüßung, Erste Lektüre: Michel Foucault, aus: Der Wille zum Wissen

11-13
Sonja Pyykkö
Mysteries of Form.  Fiction from the Modern to the Postmodern Period

Noelle Miller
Das postmoderne Testament. Autofiktion als Geständnis bei Michel Houellebecq

13:00 Mittagspause, Führung durch die Schlosskirche Wittenberg

15:00-17
Martin J. Kudla
Ein „jüdisches Bekenntnis“. Margarete Susmans Hiobbuch

Tilman Asmus Fischer
Der „priesterliche Dienst“ des Schriftstellers. Erkundungen zu religiösen Dimensionen im Werk Carl Zuckmayers und ihrer Rezeption im Kontext der Theologie Karl Barths

17:30 -19:30
Zweite Lektüre: Luther über die Buße

Christine Marianne Schoen
Die Confessio Bohemica. Ein literarisches Meisterwerk als Grundlage innerevangelischer Einigungen im 16. und 20. Jahrhundert

Samstag 19.10.

9-11
Stefan Schrader
„Und kehrt in Geistes freud die truebsal dieser zeit“. Literarische Konzeptionen von conversio in der geistlichen Dichtung Catharina Regina von GreiffenbergsF

Felix Kraft
Interkonfessionelle Gattungspraxeologie. Das moderne Geistliche Lied als romantisches Kooperationsprojekt

11:30-12:30
Dritte Lektüre Theodor Reik, aus: Strafbedürfnis und Geständniszwang

12:30-14:00 Mittagspause

14:00-16:00
Mirjam Wulff
Literarische Bekenntnisse zum Katholizismus bei Hugo Ball und zeitgenössische Vergleiche

Manuel Stübbecke
„Und ich hätte nichts zu bereuen“. Unterwerfung (2015) im theologischen Blick von Reue und Vergebung

16:30-18:00
Alexander Kappe:
Freundes- und Mentorenfiguren in Bekenntnistexten von Augustinus, Goethe und Dostojewksi

Abschlussdiskussion

Weitere Informationen

Workshop Sephardische Aufklärung

16.-18. September 2024

Workshop des BMBF-Projekts „Sephardische Aufklärung im nordafrikanischen und levantinischen Kontext des sich modernisierenden Islam“

Local Knowledge Production and Translocal Connectedness – Sephardic Entanglements of Movement and Space

The biographies of Jews under Muslim rule have often been characterized by great -voluntary or involuntary – mobility. This dispersal facilitated the exchange of ideas, languages, and cultural practices, contributing to the rich tapestry of Jewish history and the development of distinct Jewish communities in various locations. This Jewish significance of place was aptly investigated by methods typically associated with the spatial turn in particular in the last two decades. As such space was not utilized as a container of traditions but construed as a local activity of people, goods, institutions or concepts and symbols which produce social order beyond the discursive plain (Lefebvre 1974).

But what has not yet received sufficient attention in research are the unforseen effects that border-crossings – cultural, geographical, political – have on the traveler’s making sense of the respectively local order of things on a variety of levels: hermeneutics, institutions, values, symbols, ideas etc. As a result of this creative tension or conflict between what they bring in and what they encounter on site their understanding of whole books can undergo fundamental transformations – occasionally abrupt and even downright illogical (e.g. from
today’s perspective). After the arrival of the Sephardim from Spain in North Africa, for example, they felt obliged to write substantial additions to the books of their own Sephardic Halakhah („taqanot megurshei kastilia be-fez“) – additions which were ultimately codified as a product of their new environment as well. We suggest that these dynamics which are highly characteristic for the transregional history of the Jews in the mediterranean – in the Middle Ages no less than in the period from the 17th to the 20th century – can be effectively
tracked down by the method of translocality (Freitag 2019).

This awareness and focus on local dynamics between both transgression and some kind of local order enables historiography to free itself from eurocentric, monolithic concepts such as „culture“, „tradition“, „enlightenment“, „secularization“, „pre-modernity“ or „modernity“ which become dispensable in favor of more fluid models of cultural encounter. The north-south historiography is replaced by a south-south historiography. Furthermore
the translocal approach might account for a differentiation between different perspectives of the actors – local people, migrants or observers. Last but not least, this method is characterized by a sociological and economical sensitivity. Thus the methodological multiperspectivity of translocality is still able to view or account for locality as socioculturally „produced“.

The workshop wants to engaging presentations steered in the direction of a collective conversation providing initial answers to the following questions: What is the relationship between real and imagined places, such as „al-Andalus“ or „Babylon“? How can observers‘ and actors‘ perspectives on the same phenomena be equally included in research? How can different scales of consideration be linked together? How can different disciplinary definitions of a concept (e.g. network) be combined with each other? How exactly does a locally predefined concept (e.g. Nahda) interfere with the local order as soon as it migrates? etc. etc.

Ausschreibung Forschungsstipendium ‚Zukunftsorte‘ (Bewerbungsschluss 18.8.)

Der geistes- und kulturwissenschaftliche Forschungsschwerpunkt Aufklärung – Religion – Wissen (ARW), der an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angesiedelt ist, schreibt zum 1.10.2024 ein einjähriges Forschungsstipendium für Postdocs zum Thema ‚Zukunftsorte‘ aus.

Der Forschungsschwerpunkt widmet sich der historischen Aufklärung und ihrem Fort- und Nachleben in der Gegenwart, deren Selbstverständnis durch eine Vielzahl von Vorstellungen und Begriffen geprägt ist, die auf die Aufklärung zurückgehen. Dazu gehören auch „Imaginationen der Zukunft“: Wir fragen hier nach den Bedingungen, unter denen Vorstellungen, Erzählungen und Bilder der Zukunft (ent)stehen und wirken. Eine Reihe von Veranstaltungen unterschiedlicher Formate zielen darauf ab, Zukunft erneut als Möglichkeitsraum gemeinsamen gesellschaftlichen Handelns zu eröffnen. In diesem Zusammenhang steht auch das hier ausgeschriebene Stipendium.

‚Zukunftsorte‘ verstehen sich in Anlehnung an Pierre Noras Konzept der Erinnerungsorte, das sowohl konkrete, traditionsbildende Orte umfasst wie auch bestimmte Topoi und moderne Mythen, aus denen sich das kollektive Erinnern speist und an denen es immer wieder neu entsteht. Dementsprechend sind ,Zukunftsorte‘ diejenigen Stellen in der Wirklichkeit, in der Zukunft imaginiert und verhandelt wird. Denn Zukunft ist ja nicht einfach gegeben, sondern wird permanent hergestellt, verhandelt, neu austariert in Appellen und Prognosen, in Wünschen und Ängsten, mit Bildern und Handlungen. Aktuelle und vergangene Zukünfte konkretisieren sich an Orten: an Plätzen, Projekten, Aktionen, an Namen und Ideen, Versprechen und Vorhersagen. Manchmal sind es Orte, die von vornherein emphatisch Zukunft entwerfen, die das Morgen schon hier und heute vorwegnehmen, die Heilserwartungen inszenieren oder Schrecken an die Wand werfen. Manchmal wächst solchen Orten ihre Zukunft erst im Nachhinein zu, und erst im Rückblick erkennen wir in ihnen den Anfang des Neuen. Immer sind es Orte, an denen Besetzungen und Gegenbesetzungen, Erzählungen und Bilder der Zukunft aufeinandertreffen und miteinander in Dialog treten – einen Dialog, den man beobachten, aber auch fortführen kann, denn jeder dieser Orte kann auch selbst wieder weitere Ideen von Zukunft generieren. Als prominentes Beispiel eines solchen Ortes sei Halle-Neustadt genannt, zu dem es kürzlich ein studentisches Projektseminar an der MLU gab und das weiterhin einen der Schwerpunkte des „Imaginationen der Zukunft“-Projekts bildet.

Das Stipendium soll dazu dienen, gemeinsam mit anderen in ARW beteiligten Wissenschaftler*innen solche Zukunftsorte in Halle und Umgebung zu erforschen. Exemplarisch – anhand eines oder zweier solcher Orte –, sollen die komplexen und nicht selten einander widerstreitenden Ansprüche und Ausgriffe auf Zukunft erarbeitet und in einer öffentlichen Veranstaltung, idealerweise vor Ort, präsentiert werden. Dabei sind verschiedene Formate wie Lesungen, Podiumsdiskussionen, Ausstellungen, Führungen etc. denkbar. Mittelfristig geht es auch darum, gemeinsam ein Format zu entwickeln, in dem eine Topographie Hallenser Zukunftsorte dauerhaft präsentiert werden kann (Publikation, Website, Stadtspaziergang etc.). Flankiert wird dieses Vorhaben von Projektseminaren, die von Mitgliedern von ARW durchgeführt werden.

Das Stipendium beträgt 2000,- monatlich sowie evtl. Familienzuschläge. Ein Arbeitsplatz wird zur Verfügung gestellt; Sachmittel zur Durchführung o.g. Veranstaltungen oder Publikationen sind vorhanden. Die Ausschreibung erfolgt vorbehaltlich haushaltsrechtlicher Beschränkungen. Eingeladen zur Bewerbung sind promovierte Wissenschaftler*innen aus den Geistes- und Kulturwissenschaften sowie Architektur und künstlerischer Forschung. Bitte reichen Sie Motivationsschreiben, Lebenslauf, Publikationsverzeichnis sowie ein kurzes Exposé von ca. 3 Seiten ein, das Ihren Zugriff auf das Thema skizziert und die Sie interessierenden Zukunftsorte beschreibt. Bitte schicken Sie Ihre Bewerbung bis zum 18. August an margitta.drosdziok@germanistik.uni-halle.de. Weitere Informationen bei robert.buch@germanistik.uni-halle.de

Das Gedächtnis der Pluralität. Till van Rahdens „Vielheit“ in der Diskussion

Workshop
27. und 28.6.2024, IZEA
organisiert von Stephan Braese (RWTH Aachen), Ottfried Fraisse und Daniel Weidner

Die aktuellen Diskussionen über Diversität und Pluralität ebenso wie die Diskussionen um Mehrheitsgesellschaft, Integration und Leitkultur haben eine Vorgeschichte, die zu untersuchen aktuell vielleicht nötiger ist denn je. Dabei ist es im langen 19. Jahrhundert gerade und vor allem die Geschichte der Juden in Deutschland, an der sich die semantischen Zwänge solcher Konzepte ebenso zeigen wie die Potentiale, alternativ und anders über die Heterogenität moderner Gesellschaft nachzudenken. Der Workshop nimmt Till van Rahdens Buch Vielheit. Jüdische Geschichte und die Ambivalenzen des Universalismus von 2023 zum Anlass, um diese Geschichte und ihre Implikationen zu diskutieren.

In der Tat lagen die Perspektiven deutscher Jüdinnen und Juden oft quer zu Konzepten wie Pluralität, Identität oder Universalität. Ihr Gedächtnis vermag Potentiale zu erschließen, die nicht immer auf einem sich ausschließendes Verhältnis dieser Kategorien beruhen. Ihre Biographien und ihr Werk vermögen, die Verflechtung von Universalismus und Identität zu veranschaulichen, und richten den Blick nicht zuletzt auf eine dringend angezeigte Weiterentwicklung des Projekts der Aufklärung, Wie kann es viele Universalismen geben, ohne den Begriff des Universalen zu untergraben? Wie lassen sich Identitäten stärken, ohne einem Zusammenleben auf Kosten universaler Ansprüche das Wort zu reden?

Van Rahdens Buch zeichnet die Entwicklung von einer konkreteren Sprache der Vielheit zu einer hoch abstrakten Rede von der Vielfalt nach, in deren Rahmen sich auch vermeintlich entlegene Debatten wie die über die bürgerliche Gesellschaft oder auf den ersten Blick harmlose Begriffspaare wie die von Mehrheit und Minderheit verstehen lassen. Die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte macht deutlich, wie der Nationalismus, aber auch das demokratische Prinzip der Gleichheit neue politische und soziale Semantiken erzeugt, die ihrerseits heterogen und veränderlich sind. Sie stößt auf komplexe Diskussionen etwa über die Assimilation sowie auf heute vergessene Alternativen wie die Rede von der Mannigfaltigkeit oder von Stämmen. Und sie stellt Fragen, die der Workshop diskutieren will: Inwiefern lassen sich jüngere Theorien kultureller Differenz in diesen Rahmen eintragen? Was sind die Chancen und Grenzen einer Begriffsgeschichte solcher Sprachen? Lässt sich so etwas wie ein horizontaler oder lateraler Universalismus denken?

13:30-15:30
Daniel Weidner (Halle): Universalität, Differenz, Diversität, Hybridität … Vielheit theoretisieren
Jakob Ole Lenz (Halle): Liberaler Jude und preußischer Patriot. Saul Aschers publizistischer Kampf gegen den Anti-Universalismus der Deutschheit

16:00-18:00
Stephan Braese (Aachen): „Einem jeden seine eigenen Gesichtszüge“. Zu Mendelssohns Sprache der Vielheit in „Jerusalem“
Rahel Stennes (Basel): Wer gehört zur bürgerlichen Gesellschaft und wer nicht? Die Rolle der Jüdin und der Zigeunerin in Berthold Auerbachs  „vaterländischem“ Familienroman Waldfried

18:15-19:45
Abendvortrag: Till van Rahden (Montreal):
„Deutsche jüdischen Stammes“. Gemeinschaftsvorstellungen zwischen Nationalismus und Partikularismus von 1850 bis 1933

9:00-11:00
Ottfried Fraisse (Halle): Wissenschaft des Judentums als Assimilation und Widerstand. Jüdische Orientalisten im Umgang mit „Religion“ und „Geschichte“
Tom Vanassche (Aachen) Nach Habsburg. Vielheit in Joseph Roths Reisereportagen

11:30-13:00
Vielheit lesen: Roundtable mit Respondenzen von Nicolas Berg (Leipzig), Élisabeth Décultot (Halle) und Theo Jung (Halle)
13:00
Mittagsimbiss und Abschluss der Tagung

Masterstudiengang Kulturen der Aufklärung

Der Master-Studiengang Kulturen der Aufklärung wurde vom Forschungsschwerpunkt „Aufklärung – Religion – Wissen“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg konzipiert, ist am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) und wird von Professorinnen und Professoren der Theologischen Fakultät sowie der Philosophischen Fakultäten I, II und III getragen.

Er beschäftigt sich mit den Konzepten udn Deutungsmustern der Moderne, die in der Epoche der Aufklärung entstanden und noch unsere Gegenwart und deren Debatten um die Zukunft des westlichen Gesellschaftsmodells in einer globalisierten Welt prägen. Aufklärung erscheint dabei ein spannungsreicehr PRozess: Indem die traditionellen Ordnungen des Handelns, Glaubens und Wissens ihre Selbstverständlichkeit verloren, öffneten sich neuartige Freiräume für die menschliche Welterkenntnis und Weltgestaltung. Seitdem gilt es als Aufgabe der Gesellschaft wie jedes einzelnen, selbst über sich und die eigene Zukunft zu entscheiden. Besonderes GEwicht liegt dabei auf dem professionellen Umgang mit den jeweils fachspezifischen Methoden und auf der Erkundung praktischer Berufsfelder. Beteiligt sind die Fächer Philosophie, Theologie, Geschichte, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Romanistik, Anglistik, Germanistik, Slavistik, Medien- und Kommunikationswissenschaft, Musikwissenschaft sowie Pädagogik. Mehr Inforamtionen finden sich hier.

Transformationslabor Imaginationen der Zukunft

Kooperationsprojekt zwischen der Stadt Halle und dem Forschungsschwerpunkt Aufklärung — Religion — Wissen
gefördert durch den Stifterverband für die deutsche Wissenschaft e. V.
Beteiligte Robert Buch (ARW), Sabine Odparlik (Stadt Halle), Daniel Weidner (ARW)

Weil es die Zukunft „noch nicht gibt“, ist das Wissen von ihr immer prekär, provisorisch und „gemacht“. Um etwas von ihr zu wissen und noch mehr um auf sie hin zu handeln, muss man sie vorstellen – Zukunft und Zukünfte müssen imaginiert werden, es braucht Narrative und Bilder, in die man einzelne Vorhersagen und Bilder einbetten kann. Das ist nicht unproblematisch: Wie wir gerade in der Pandemie eindrücklich erlebt haben und in der Klimakrise weiterhin erleben, stehen sogar wissenschaftliche Prognosen vor dem Präventionsparadox: Um effektiv zu warnen, muss man negative Szenarios entwickeln und sie in der öffentlichen Kommunikation sogar ausmalen; wirkt die Warnung, treten die Szenarios nicht ein – hat dann die Wissenschaft unrecht? Noch viel stärker gilt das auf politischer Ebene, denn um Zukunft nicht nur zu erleiden oder an Experten zu delegieren, sondern zu gestalten, muss sie vorgestellt werden: durch Geschichten, Bilder, Diskussionen, die es erlauben, dass heterogene und diverse Gruppen miteinander ins Gespräch kommen. Gerade hier im Osten, wo die Transformationsprozesse der letzten Jahrzehnte oft als fremdbestimmt erlebt wurden, gilt es eigene Geschichten und Wünsche zu entwickeln, zu artikulieren und zu diskutieren. Eine solche „Zukunftskultur“ ist eine zentrale Voraussetzung für die Transformationen des 21. Jahrhundert und zugleich ein Projekt, an dem die Zusammenarbeit verschiedener Gruppen von essentieller Bedeutung ist.

Das Projekt will diese Fragen reflektieren und langfristig in die öffentliche Kommunikation in der Stadt einzubringen. Es zielt darauf, partizipative Formate entwickeln, in denen Zukunft gemeinsam und aktiv imaginiert werden kann. Dazu sollen insbesondere die im Transferprofil der Universität bisher wenig vertretenen Geistes- und Kulturwissenschaften beitragen, die von Haus aus Experten für das Imaginäre und Narrative sind. Sie können in die öffentliche Debatte das kulturelle Wissen einbringen, wie Zukunft imaginiert wurde, wird und werden wird, welche Konflikte dabei entstehen, welche Chancen sich bieten und wie man solche Projekt gestaltet. Umgekehrt profitieren die Geistes- und Kulturwissenschaften auf allen Ebenen (Lehre, Forschung, Transfer) davon, ihre Diskurse auf die konkrete politische Zukunftsgestaltung und vor allem die öffentliche Debatte zu beziehen. Begleitung und Monitoring dieses Prozesses durch Coaching und andere Formate sind dabei essentiell für sein Gelingen und tragen entscheidend zur Verstetigung bei.

Das Projekt soll dazu dienen, ein Forum bzw. eine Schnittstelle zwischen der Stadt Halld und der Universität aufzubauen, insbesondere zu deren zentralem geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt „Aufklärung – Religion – Wissen“. Über dieses Forum sollen auch zukünftig weitere Vorhaben in Lehre, Forschung und öffentlicher Kommunkation zwischen Stadt und Universität leichter entwickelt, abgestimmt und durchgeführt werden können. Das Projekt geht zunächst vom genannten Forschungsschwerpunkt aus, im Verlauf des Prozesses werden weitere Forschende aus den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften einbezogen, langfristiges Ziel ist die Entwicklung einer regelmäßigen Zukunftswerkstatt Halle mit Bürgerbeteiligung sowie später in Kooperation mit dem Zukunftszentrum. Das Projekt selbst versteht sich als Vorbereitung und als Pilot einer solchen Zukunftswerkstatt.

Siehe dazu auch die Pressemeldung.

Politische Theologie

Forum „Literatur und Religion“ für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

27.-28. Juli 2023

Das dritte Treffen des Forschungsforums »Literatur und Religion« für Nachwuchswissenschaftler:innen an der Universität Halle widmet sich dem Thema Politische Theologie. Lange ein Spezialgebiet der Mediävistik oder der Geschichte der Gegenaufklärung ist politische Theologie in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen Diskurs in den Geistes- und Kulturwissenschaften geworden. Sie verhandelt die grundlegende Annahmen über das Verhältnis von politischer Legitimität und normativer Ordnung und untersucht dabei auch das Fort- und Nachwirken religiöser Denkfiguren, Diskurse und Praktiken. Literatur ist dabei nicht nur ein, wenn nicht der zentrale Echoraum religiöser Sinngebungen und Autorisierungen, sondern darüber hinaus auch ganz konkret der Ort, an dem Theologie und Politik, Heil und Herrschaft aufeinanderstoßen und immer wieder neu konfiguriert werden müssen. Dazu gehören nicht nur Herrschaftsmythen, sondern auch Opferlegenden, Erlösungsbilder, Figuren der Stellvertretung, Imaginarien der Gemeinschaft. Im Workshop lesen die Teilnehmenden gemeinsam einige Grundlagentexte zur Politischen Theologie und diskutieren ihre Forschungsprojekte mit Bezug auf das Spannungsfeld.

Workshop: Die Predigt der Aufklärung

„Wahre allgemeine Schule der Menschheit“ oder „Auslegung des Kirchenglaubens“?

11.-12. Mai 2023 IZEA

Organisation und Leitung: Prof. Dr. Ruth Conrad (HU Berlin), Hanna Miethner (HU Berlin) und Prof. Dr. Daniel Weidner (MLU Halle-Wittenberg)

Die Aufklärung zielt auf Verbreitung von Wissen, auf Erzeugung einer Öffentlichkeit sowie auf die Erziehung des oder der Einzelnen zur Mündigkeit. Neben den klassischen Medien einer solchen Öffentlichkeit wie Zeitschriften und Salons haben auch Predigten für dieses Programm eine zentrale Rolle gespielt: Insbesondere die Volksaufklärung entdeckt die Predigt als wichtiges Medium zur Verbreitung von Wissen aller Art und zur Einübung eines neuen Verständnisses von „Popularität“. Zugleich profilieren manche Aufklärer die Predigt aber auch als traditionelle, hierarchische und heteronome Form der Kommunikation, von der sich die neue Epoche gerade absetzen will. Dieses Wechselspiel von Benutzen, Beerben und Ersetzen der Formen der Predigt – vielleicht insgesamt charakteristisch für das Verhältnis der Aufklärung zur Religion – steht im Zentrum des Workshops, der die Vielfalt aufklärerischen Predigens aus bewusst interdisziplinärerer Perspektive – Homiletik, Kirchengeschichte, Aufklärungsforschung, Literaturwissenschaft, Medien-, Wissens- und Diskursgeschichte – diskutieren will.

Halle Lectures 2023: Philipp Sarasin

Ist die Aufklärung am Ende? Nicht ganz
Reihentitel: Wissen – Macht – Aufklärung

Datum: 24. Mai 2023, Beginn: 18 Uhr
Prof. Dr. Philipp Sarasin (Zürich)

Die Aufklärung ist rund 250 Jahre alt geworden – und die Kritik an ihr, die anfänglich vor allem christlicher oder offen reaktionärer Natur war, fast ebenso. Im 20. Jahrhundert und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg weitete sich diese Kritik auch auf der linken Seite des politischen Spektrums beträchtlich aus, bis hin zur feministischen und postkolonialen Dekonstruktion der Aufklärung als Chiffre westlicher, weißer und männlicher Macht.

Thema

„Aufklärung“ bestimmt bis heute unser Selbstverständnis in hohem Maße. Zentrale moderne Konzepte von Öffentlichkeit, Rationalität, Selbstverantwortung, Zivilisation, Kritik, Kultur etc. erhalten nicht nur in der historischen Aufklärung ihre prägnante Formulierung, sondern werden immer wieder neu mit Bezug auf Aufklärung artikuliert. Bis in die Gegenwart und gerade heute werden regelmäßig neue, andere, zweite dritte Aufklärungen ausgerufen – oder auch verabschiedet. Die philosophische, politische und hochgradig metaphorische Aufladung des Deutungsmusters „Aufklärung“ eignet sich offensichtlich besonders gut, um das Selbstverständnis der Moderne zu artikulieren.

Das gilt besonders für das Verhältnis zur Religion, das heute nicht mehr einfach als Gegensatz gedacht wird. Die neuere Forschung hat viele und differente religiöse (katholische, jüdische, islamische) Aufklärungen entdeckt, religiöse Momente im Aufklärungsdiskurs herausgearbeitet (die ‚Erleuchtung‘, Geschichtsteleologien etc.) und gezeigt, dass die moderne Vorstellung von „Religion“ selbst ein Produkt der europäischen Aufklärung ist. Die jüngere Wiederkehr der Religionen im globalen Maßstab und die postkoloniale und postsäkulare Kritik an europäischen Denkformen macht es daher notwendig, auch das Verhältnis der Moderne zur Religion neu zu denken – dafür hat „Aufklärung“ erneut eine Schlüsselrolle.

Aufklärung kann heute also nicht mehr als Selbstverständlichkeit betrachtet werden. In dem Moment, in dem ihre historischen Errungenschaften als bedroht erscheinen, gewinnt sie an Aktualität und Streitwert.
Einerseits motiviert das zu einem Rückgang auf die historische Aufklärung: Historische Forschung muss die Komplexität und Vieldeutigkeit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts herausarbeiten. Schon diese vollzieht sich wesentlich an Streitfällen, an denen sich diskursive Aushandlungsprozesse, das Aufeinanderprallen verschiedener Deutungsmuster und die Verwobenheit unterschiedlicher Diskurse in Philosophie, Wissenschaft, Politik, Pädagogik etc. beobachten lassen, die jeweils kulturell verankert sind, d.h. auch aus Denkfiguren, Leitmetaphern, Bildern, Praktiken, Narrativen etc. bestehen.
Andererseits lassen sich aus der Perspektive der Aufklärung aus aktuelle Diskurse beschreiben: Wie lässt sich etwa der Universalismus der Vernunft oder der Menschenrechten mit der Pluralität und Heterogenität der Kulturen verbinden? Wie verhält sich die individuelle Freiheit zu gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Verbindlichkeiten? Wie kann Kritik in einer sich radikal verändernden Öffentlichkeit noch funktionieren? Diese schon im 18. Jahrhundert intensiv diskutierten Fragen haben bis heute ihre Aktualität nicht verloren.

Zu möglichen Fragen von ARW, in der sich die historische Aufklärungsforschung mit anderen Perspektiven verbindet, gehören u.a.

Gegenwart: Der Streit über die Aufklärung ist immer schon ein Streit über die Deutung der Europäischen Geschichte, der Moderne als solcher, und damit auch der Gegenwart. Deren Ort muss angesichts von endemisch ausgerufenen Zeitenwenden, eines postulierten „Anthropozän“ oder der postkolonialen Kritik immer wieder neu vermessen werden. Forschungen über solche Deutungsmuster und Diskurse lassen sich produktiv mit der sich wesentlich als Gegenwartsbeobachtung verstehenden Aufklärung verbinden.

Öffentlichkeit: Die für moderne Gesellschaften konstitutive pluralistische Öffentlichkeit geht nicht nur auf die Aufklärung zurück, auch ihre Grenzen und ihre Fragilität ist dort bereits deutlich bewusst. Angesichts der aktuellen Krise der Öffentlichkeit (fake news, konkurrierende bubbles) stehen Prinzipien und Grenzen der Öffentlichkeit wieder in Frage und verlangen nach einer interdisziplinierten Erforschung durch Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften.

Kritik: Zur modernen Öffentlichkeit gehören zentral diverse Formen der Kritik, die aktuell ihre Selbstverständlichkeit verlieren, wenn sowohl über die Erschöpfung der Kritik wie auch über ihre Ausbreitung als Hyperkritik geklagt wird. Inwiefern Wissenschaft kritisch ist, sein kann, sein soll, welche Grenzen Kritik setzt und voraussetzt, wie Kritik sich zum Pluralismus der Standpunkte verhält, sollte in einer Universität ständig diskutiert werden.

Wissen: Von dem prekären Status der Öffentlichkeit ist auch das Wissen betroffen. Die beschleunigte öffentliche Kommunikation unterzieht auch wissenschaftliche Expertise immer stärker dem Aufmerksamkeitsdruck; Klimawandel und „Anthropozän“ stellen auch naturwissenschaftliche Forschung in den Kontext vorher kaum bekannter Dringlichkeit. Was diese neuen Bedingungen für die Wissensproduktion bedeuten und wie unter ihnen weiterhin Wissenschaft getrieben werden kann, ist vor dem Hintergrund der Wissensgeschichte seit der Aufklärung zu untersuchen.

Religion: Entgegen den Erwartungen traditioneller Modernisierungstheorien befinden sich Religionen global gesehen keineswegs auf dem Rückzug. Die weltweit verbreiteten Erneuerungsbewegungen, aber auch das Weiterwirken religiöser Denkformen, Diskurse und Symbole auch außerhalb von Kirche und Konfession stellt die klassischen Disziplinen und den (in der Aufklärung geprägten) Religionsbegriff vor große Probleme. ARW bietet für die notwendige interdisziplinäre Diskussion dieser Fragen einem hervorragenden und in Deutschland einzigartigen Zusammenhang.

Identität, Kultur: Kritik wird heute nicht nur im Namen der Rationalität, sondern auch von kultureller Identität geübt, nicht selten in potentiell destruktive polemischer Schärfe. Die gesellschaftlichen Verwerfungen und die immer komplexeren Formen der Zugehörigkeit, die in sich in diesen Polemiken ausdrücken, können in historisch-kulturwissenschaftlichen Analysen verständlich gemacht werden – was letztlich zur Verständigung auch innerhalb der Universität beiträgt.

Epistemologie der Geistes- und Kulturwissenschaften: Schon die historische Forschung um 18. Jahrhundert steht vor grundsätzlichen methodischen Fragen, weil „Pietismus“ eine nachträgliche (und polemische) konstruierte Kategorie ist und „Aufklärung“ in der Regel zugleich historisch und normativ verstanden wird. Aber auch darüber hinaus kann ARW zum Diskussionsforum für die Epistemologie der historischen Geistes- und Kulturwissenschaften werden und reflektieren, welche Wissensansprüche, Deutungsleistungen und Beiträge zur gesellschaftlichen Orientierung historische Forschung impliziert. Der Rückblick auf die im 18. Jahrhundert entworfene moderne Universität verbindet sich mit dem Vorausblick in die Zukunft dieser Institution.