Workshop, 21.-22. November 2024
Ort: Seminarraum 21, Ludwig-Wucherer-Str. 2
06108 Halle (Saale)
Wir leben, so scheint es, in einer Zeit der Eskalationen. Fast im Tagesrhythmus brechen neue Konflikte auf, denen man sich schwer entziehen kann: von eher klassischen Verteilungs- und Interessenkonflikten zu Deutungskonflikten, die in immer weitere Bereiche ausgreifen und oft als „Kulturkämpfe“ zum Zeichen einer neuen Zeit erklärt werden. Denn diese Kämpfe verstricken auch eigentlich Unbeteiligte und zwingen zu Parteilichkeit. Vermittlung scheint vergeblich, die Antagonismen unauflösbar: es herrscht ,deadlock‘ zwischen unversöhnlichen Positionen. Die Vehemenz unserer aktuellen Kulturkämpfe erzeugt Faszination und Unbehagen. Ihre Polarisierungen versprechen Ordnung in die ehemalige ,neue Unübersichtlichkeit‘ zu bringen, aber sie produzieren zugleich Unruhe und scheinen einer Dynamik zu folgen, deren Effekte sich nur ungefähr übersehen lassen.
Die neuen Streitformen affizieren auch die Kulturwissenschaften. Sie sind betroffen sowohl als Zielscheibe kulturkämpferischer Diffamierung – unter Titeln wie cancel culture, identity politics oder cultural marxism – als auch, in ihrem aktivistischen Flügel, als Akteure im Konflikt, ob im Namen beispielsweise der postcolonial studies oder der environmental humanities. Aber auch der Kulturbegriff selbst ist betroffen. Denn statt als dynamischer Prozess des Austausches, der Verhandlungen und Hybridität erscheint Kultur als Kampfplatz, als Feld agonaler Energien, und steht im Zeichen von Konfrontation und Polemik. Der Workshop, zu dem wir einladen, möchte diskutieren, was die Kulturwissenschaften zum Verständnis dieser Eskalationslogik beitragen können: ihrer Orte und Schauplätze, ihrer Modi und Formen sowie schließlich der ihr zugrundeliegenden Affektpolitiken.
Schauplätze
Sind Kulturkämpfe Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Kulturen oder geht es um die Klärung der Frage nach dem, was eine Gesellschaft als ,ihre‘ Kultur behauptet, was und wer dazugehört und was und wer nicht? Prominentes Beispiel dafür ist der Streit um ,den‘ Islam in vielen westlichen Gesellschaften, der weniger mit dessen Vertretern, sondern größtenteils innerhalb der Mehrheitsgesellschaft geführt wird, in einer Art Selbstgespräch also, das sich im Prinzip um die Frage nach dem Ort der Religion in der Moderne dreht. Auch ein vergleichender Blick drängt sich auf, etwa auf die vielleicht frappierendste gesellschaftliche Polarisierung unserer Tage in den USA. Warum dort? Was bedingt die Virulenz der zwischen den zwei Visionen der Vereinigten Staaten von Amerika geführten Auseinandersetzungen? Inwiefern sind sie paradigmatisch für culture wars in anderen Weltgegenden? Oder sind Kulturkämpfe nicht vielmehr nur historisch und lokal zu verorten und zu verstehen?
Streitweisen
Der Blick auf einige der prominentesten Eskalationsherde unserer Gegenwart wirft Fragen nach Mustern und Typen auf. Gibt es ein Modell – etwa das US-amerikanische Paradigma – oder verschiedene Muster? Wäre es möglich, eine Typologie solcher Konflikte zu entwickeln? Gibt es eine den Antagonismen und ihrer Polemik zugrundeliegende Grammatik und wenn ja, wie ließe sie sich beschreiben? Mit welchen Narrativen arbeiten die kulturkämpferischen Diskurse? Von wo wird gesprochen und in wessen Namen? Mit welche Selbstautorisierungen operieren die Kulturkampf-Skripte? Welche Setzungen und Zuschreibungen werden vorgenommen und welche Ausblendungen und Verkürzungen gehen damit einher? Wer wird eigentlich adressiert und wie? Welche Gegnerschaften und Bündnisse werden konstruiert? Wie enden Kulturkämpfe: mit Erschöpfung, Versöhnung, Umlenkung?
Affektpolitiken
Ideologiekritische Aufklärung über die ,Irrtümer‘ der Streitenden und ihre ‚wahren‘ Motive scheinen heute nicht mehr auszureichen, weil es zunehmend unklar ist, ob sich die Antagonismen auf materielle Interessen zurückführen und so irgendwie befried(ig)en lassen. Die so unversöhnlichen und unvermittelbaren Ansprüche, die in diesen Konflikten aufeinandertreffen, sind ohne Einbeziehung der Affekte, die in ihnen wirksam sind, kaum angemessen zu erfassen. Das Spektrum der dabei gezogenen affektiven Register reicht vom Pathos der gerechten Sache und ihrer endgültigen Durchsetzung zum Ressentiment der Gekränkten und Erniedrigten, das schon Nietzsche als zentrale Ressource politischer Mobilisierung erkannt hat. Wir erleben, so scheint es, die Rückkehr politischer Leidenschaften, erhabener wie niederer, von Empörung über Zorn zu Fanatismus, auf die Bühne der Öffentlichkeit, verstärkt und gesteigert durch die sozialen Medien. Aber der eruptive und gewaltsame Charakter ihrer Wiederkehr sollte nicht über den Anteil von Inszenierung und Kalkül hinwegtäuschen, die dabei mit im Spiel sind und deren Logik oder Rationalität näher zu beschreiben wären.
Nach einer Tagung über den historischen Kulturkampf des 19. Jahrhunderts, die 2021 an der Katholischen Akademie in Berlin stattfand und deren Ergebnisse kürzlich als Band erschienen sind, sowie einer zweiten Tagung, die wir im Januar dieses Jahres im Rahmen des Forschungsschwerpunkts Aufklärung – Religion – Wissen an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg organisiert haben, soll die dritte Veranstaltung zum Thema, eine Tagung an der Universität Halle, die gegenwärtigen Eskalationsdynamiken aus verschiedenen disziplinären Perspektiven in den Blick nehmen und dabei zugleich auch als methodische Herausforderung reflektieren.
PROGRAMM
Donnerstag, 21.11.2024
13.00 Begrüßung und Einleitung
13.30-15.30
Prof. Dr. Magdalena Marszalek, Potsdam: Die Unfähigkeit zu streiten. Streitkultur und gesellschaftliche Polarisierung
Dr. Julia Nitz, Halle: Kulturkampf in den USA: Muster und Dynamiken in historischer Perspektive
15.30-16.00 Pause
16.00-18.00
Dr. Aletta Diefenbach, Berlin: Affektpolitiken der duldenden Toleranz und der eigenen kulturellen Vielfalt. Wie die Neue Rechte über Religion streitet
Prof. Dr. Jörg Dierken, Halle: Sakralisierter Moralismus
18.00-18.30 Pause
18.30-19.30
Prof. Dr. Niels Werber, Siegen: Populäre Konflikte
Freitag 22.11.2024
9.00-11.00
Prof. Dr. Jürgen Brokoff, Berlin: Ressentiment und die Figur des (kämpfenden) Außenseiters: Botho Strauß
Neela Janssen, Wien/Halle: Feuilletonistischer Aufreger oder identitätspolitisches Sprachrohr? Simon Strauß‘ Debüt Sieben Nächte
11.00-11.30 Kaffeepause
11.30-13.30
Dr. Johannes Franzen, Siegen: Der vergiftete Paratext. Die Person des Künstlers als kontroverser Störfaktor
Dr. Johanna-Charlotte Horst, Halle: #tradwife. Kritik einer Lebensform